Was ist Cancel Culture?

Cancel Culture (früher Call-Out-Culture) bezeichnet die kollektive Forderung eines Ausschlusses von Personen oder Unternehmen von öffentlichen Bühnen online und offline.¹ Es wird dabei auf Handlungen, Äußerungen oder sonstige Inhalte reagiert, die beispielsweise rassistisch, sexistisch oder ableistisch sind oder als solche bewertet werden. Es handelt sich nicht um eine Bewegung, ein eigenständiges Wissenschaftsfeld oder politische Agenda.

Merkmale von Cancel Culture

  •  Die Mobilisierung einer kritischen Masse (häufig online über Soziale Medien).
  • Das Ziel, eine Person, ein Unternehmen oder ein Werk für Handlungen oder Inhalte in die öffentliche Diskussion zu stellen und damit gleichzeitig in die Verantwortung zu nehmen.
  • Die Forderung nach einem Ausgleich für wahrgenommenes Unrecht ( je nach Kontext beispielsweise Richtigstellung, Entschuldigung oder Absage).
  • Vorläufige Konsequenzen für die “gecancelte” Person oder das Unternehmen (Deplatforming: beispielsweise Veranstaltungsabsage, Verdrängung aus öffentlichen Kommunikationskanälen, Reputationsminderung).

Cancel Culture – Pro & Contra: die wichtigsten Argumente

Die polarisierende Debatte zu Cancel Culture wird (verdichtet gefasst) von drei großen² Gegensatzpaaren dominiert:

1. Berechtigte Kritik vs.Verleumdungs-Kampagne
2. Soziale Gerechtigkeit³ vs.Selbstjustiz
3. Demokratisches Tool vs. Zensur.

Insgesamt erinnert die vorgetragene Kritik zu Cancel Culture an die Polarisierung rund um Political Correctness.⁴

„Je nachdem, wen man fragt, scheint ‚Cancel Culture‘ ein niedrigschwelliges Instrument von Online-AktivistInnen zu sein, ein destruktiver Boykott-Aufruf, der systematische Kampf, unliebsame Meinungen aus dem Diskurs zu verbannen, oder gar der Versuch, Menschen sozial zu vernichten.“ (Autorin Samira El Ouassil, 2020)⁵

Gegensatzpaar 1:

Berechtigte Kritik vs. Verleumdungs-Kampagne  

“Diese Aussage, diese Handlung oder dieser Inhalt wird aus folgenden Gründen als problematisch empfunden. Wir wollen öffentlich möglichst viele Menschen darauf aufmerksam machen. Wir wollen Stellungnahme / Entschuldigung / Absage / Ausschluss erreichen.”

vs.

“Sehe ich nicht so / Es ist mir egal. Die Anschuldigungen sind rein subjektiv begründet. Ihr kennt mich doch gar nicht. Auf welcher Grundlage stellt ihr eure Forderungen? Wieso wollt ihr mir schaden?.”

Gegensatzpaar 2:

Soziale Gerechtigkeit vs. Selbstjustiz

“Wir wollen dir / euch deutlich machen, dass dieses Verhalten oder diese Aussage Menschen ausgrenzt, verletzt, oder Unrecht verbreitet. Wir stehen dabei beispielsweise für marginalisierte Gruppen und Minderheiten, die weniger öffentlichen Schutz in der Gesellschaft genießen.”

vs.

“Hier wird ohne fairen Prozess gecancelt. Ihr benehmt euch wie Richter und urteilt über mich. Nur weil ihr dieser Minderheit angehört, bestimmt ihr jetzt, was gesagt oder gemacht werden darf. Das ist Mob-Mentalität.”

Gegensatzpaar 3:

Demokratisches Tool vs. Zensur

“Wir nutzen dieses Tool als wichtiges Gegengewicht zu politischen Missständen und machen von unserem Mitspracherecht in einer Demokratie Gebrauch. Wir stellen uns auch den Mächtigen entgegen.⁶ Wir wollen öffentlichkeitswirksam dazu bewegen, inklusiver und gerechter zu handeln.”

vs.

“Man traut sich wirklich gar nichts mehr zu sagen. Ich sehe eine Bedrohung für die Rede- oder Meinungsfreiheit. Seid ihr die Gedankenpolizei? Das alles scheint Teil einer größer angelegten, ideologischen Verschwörung zu sein.”

Was ist die Cancel Culture in der Realität?

Bei Cancel Culture in der Realität geht es mal um Einzelpersonen, mal um Unternehmen, mal um Werke oder Ideen.⁷ Jeder bisher breit diskutierte Fall der (Welt)öffentlichkeit fand mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Ausgängen statt. Meistens neutralisiert schon die Nachfrage am Markt die vorübergehenden Konsequenzen eines öffentlichen “Cancelns”.

Cancel Culture ist ein hoch politisches Thema

Wer eigentlich wen und warum für was cancelt, canceln soll oder canceln darf und was diese Praxis für eine Gesellschaft bedeutet: Cancel Culture ist ein hoch politisches Thema. Der Begriff wird inzwischen häufig negativ im Zusammenhang mit linken Politikinhalten verwendet und meint dann eine “überzogene Empörungskultur”. Die negative Konnotierung von Cancel Culture mit Metaphern wie “Gedankenpolizei” ist auch eine konservative Reaktion auf empfundenen Machtverlust.

Ist Cancel Culture neu?

Organisierter Protest oder auch die Forderung nach Konsequenzen bei Unrecht oder Regelbrüchen sind fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Das Internet und hier insbesondere die sozialen Medien haben allerdings die Art verändert, wie, in welcher Geschwindigkeit und wo dieser Protest stattfindet. Eine menschliche Fähigkeit spielt dabei immer eine wichtige Rolle: die Scham.

Scham nützt der Gemeinschaft⁸

In der Evolution wird Scham durchaus als nützlich angesehen. Sie gilt als angeborene Fähigkeit und soll unter anderem den Zusammenhalt einer Gemeinschaft stärken. Denn wer sich schämt, hat ein Gewissen und ist sich bewusst, eine der Regeln der Gemeinschaft verletzt zu haben.⁹ Das macht es leichter, einem anderen Menschen zu verzeihen (auch vor Gericht kann Reue strafmildernd wirken). Schämt sich der andere nicht, lässt uns das zweifeln, ob wir auf die gleichen Regeln vertrauen.

Soziale Medien und ihre Mobilisierungsmacht

Soziale Netzwerke sind aufgrund ihrer Beteiligungs- und Vernetzungsmöglichkeiten wirkungsvolle Instrumente zur Mobilisierung.¹⁰ Zudem dienen sie als Multiplikatoren von polarisierenden Einzelmeinungen. Diese werden dann beispielsweise von den Massenmedien aufgegriffen und erreichen flächendeckend die Gesellschaft.¹¹

Was bedeutet Cancel Culture?

Das sogenannte “Canceln” steht für ein “Absagen” oder “Streichen”. Wie schon bei der Call-Out Culture der #MeToo-Bewegung geht es im Kern um ein kollektives Tool zur lautstarken Sichtbarmachung eines erlebten oder empfundenen Unrechts.¹² Während “Canceln” im Zusammenhang mit “in die Verantwortung nehmen” ursprünglich Black Twitter entstammte, steigt die Anzahl der Beiträge zu Cancel Culture in deutschsprachigen, journalistischen Medien und Social Media seit 2019 konstant an.¹³ Insgesamt besteht ein Missverhältnis zwischen einer imaginierten Gefahr der Cancel Culture und ihrer Funktion in der Realität.¹⁴

Quellen

¹ https://www.researchgate.net/publication/361985872_Cancel_Culture; https://de.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture; https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/2057047320961562

² https://uebermedien.de/52132/canceln-wir-die-idee-der-cancel-culture/

³ https://www.teamnushu.de/magazin/diversity

⁴ https://www.researchgate.net/publication/361985872_Cancel_Culture

⁵ https://uebermedien.de/52132/canceln-wir-die-idee-der-cancel-culture/

⁶ https://www.nytimes.com/2020/12/03/t-magazine/cancel-culture-history.html

⁷ https://uebermedien.de/52132/canceln-wir-die-idee-der-cancel-culture/

⁸ https://de.wikipedia.org/wiki/Schamgef%C3%BChl

⁹ https://www.mdr.de/wissen/antworten/warum-schaemen-wir-uns-100.html

¹⁰ https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/34914/1/WieseJanina_Your_Fave_is_Problematic.pdf

¹¹ https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/34914/1/WieseJanina_Your_Fave_is_Problematic.pdf

¹² https://uebermedien.de/52132/canceln-wir-die-idee-der-cancel-culture/

¹³ https://www.researchgate.net/publication/361985872_Cancel_Culture

¹⁴ https://www.swr.de/swr2/literatur/analyse-eines-imaginierten-wahns-100.html