Dann bewegst du dich vielleicht in dem Bereich, in dem die „toxische Produktivität“ zuhause ist. Sie definiert sich psychologisch als ungesunder Wunsch, konstant produktiv zu sein und bei der Arbeit oder im Privaten um jeden Preis die berühmte „Extrameile“ hinzulegen – selbst, wenn es nicht von dir erwartet wird. Für Betroffene ist selbst zu viel noch nicht genug: Sie fühlen sich am Ende eines Tages oft sogar schuldig, weil sie nicht noch mehr getan haben. Das Selbstwertgefühl misst sich dabei immer mehr am tatsächlichen „Output“, den man täglich zu liefern müssen glaubt.

Für die Studie „AI@Work“ im Auftrag von Oracle wurden in 2020 12.347 Menschen im Alter von 22 bis 74 Jahren aus elf Ländern befragt, darunter 1003 in Deutschland. Laut der Studie war 2020 für sieben von zehn Menschen bisher das stressigste Arbeitsjahr überhaupt. Mehr als drei Viertel der Menschen weltweit (78 Prozent) berichteten, dass sie in ihrem psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt sind – in Deutschland gaben dies gut 68 Prozent an. 85 Prozent der Teilnehmenden berichten von Schlafmangel, schlechter körperlicher Gesundheit und geringerer Zufriedenheit im häuslichen Umfeld. In einer anderen Studie der TU Chemnitz in Kooperation mit der Krankenversicherung TK in 2020 gaben 60 Prozent der Befragten an, dass bei ihnen die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen. 27 Prozent – und damit mehr als ein Viertel der 2.900 Befragten – erleben diese Unschärfe als Belastung.

Homeschooling meets Arbeitsalltag

Eine besonders hohe psychische Belastung wurde bei berufstätigen Frauen im Homeoffice mit Kindern im nicht schulpflichtigen Alter festgestellt. Im Ärzteblatt 04/2021 zeigen vorgelegte Zahlen der Krankenversicherung KKH, dass in 2020 bundesweit rund doppelt so viele Arbeitnehmerinnen ein Attest wegen psychi­scher Erkrankungen vorlegten, als Arbeitnehmer. Anpassungsstörungen und Reaktionen auf schwere Be­lastungen haben Ärzte laut dieser Zahlen sogar bei fast dreimal so vielen Frauen diagnostiziert. Der WSI-Gleichstellungsreport 2021 gibt an, dass 70 Prozent der befragten Paare ihre Arbeitsteilung trotz erschwerter Rahmenbedingungen nicht verändert haben. Wer hier durch selbstgesteckte Leistungsmarker den persönlichen Druck noch weiter hochschraubt, läuft erhöhte Gefahr, schlussendlich komplett leer zu laufen.

„One sign of toxic productivity is calling for a Zoom meeting when certainly a phone call or email would be OK.” (Laurie Rüttimann, HR Consultant & Autorin)

Toxische Produktivität ist eine Tochter der Hustle-Culture und des Workaholism. Alle drei sind unerbittlich produktiv und zugegebenermaßen in manchen beruflichen Konstellationen schwer zu entkommen. Sie entspringen einer Kultur, die Produktivität ausdrücklich lobt und belohnt – was per se ja ein sinnvoller Hebel für individuelles und wirtschaftliches Fortkommen ist. Es wird uns aber nicht immer klar an die Hand gegeben, wo wir die Grenze ziehen sollen zwischen „das ist vollkommen ausreichend“ und „das ist weit mehr, als nötig und erwartet“.

Jede*r von uns hat in den letzten Monaten mehr philosophiert: Was habe ich eigentlich den ganzen Tag lang gemacht?

Die Pandemie hat, wie schon erwähnt, auf das Konto der Huste Culture beträchtlich eingezahlt. Wenn unsere Umgebung uns mit Stressoren oder Bedrohungen konfrontiert, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, konzentrieren wir uns oft auf kleine Dinge in unserer unmittelbaren Umgebung, die wir kontrollieren können – wie zum Beispiel To-Dos abhaken oder in Arbeitsprojekten zu glänzen; quasi als Substitution für den erlebten Stillstand. In unserer unmittelbaren Umgebung produktiv zu sein, lenkt uns von den Dingen ab und fühlt sich gut an, zumindest vorübergehend. Persönlich geschätzt 99 Prozent unserer Routinen wurden auf Pause gesetzt. Wir alle befanden uns vor allem in den Anfängen der Krise auf völlig unbekanntem Terrain. Produktivitätsexzesse und Arbeitsmartyrertum? Waren willkommene Tools, um der eigenen Verunsicherung Abhilfe zu schaffen.

„The result is: no matter how productive you are, you are always left with that guilty feeling of not having done more.” (Dr. Julie Simmons, Psychologin & Bloggerin für BBC Mental Health Awareness Week 2020)

Die Folge des ganzen Hustles sind Versagensängste, depressive Schübe und Erschöpfungszustände bei gleichzeitiger Rastlosigkeit – und die machen dich langfristig betrachtet nicht zu einem produktiveren Teil des großen Ganzen, in dem du dich bewegst. Niemand – weder du noch dein privates oder berufliches Umfeld hat etwas davon, wenn die letzte Reservemeile Extraenergie ausgefahren ist und du zusammenbrichst. Und in dem Moment, wo du Führungsverantwortung übernimmst, wird deine Einstellung zur Balance zwischen streng fokussierter Produktivität und recreational activities zugleich so etwas wie ein Vorbild für andere. Auch ich will innerhalb der nushu crew, wie wir die Menschen hinter nushu nennen,  ja als ansprechbarer und inspirierter Part im Business dauerhaft präsent sein ­­– und nicht im stationären Flügel einer Burnout-Klinik darauf warten, dass ich endlich wieder weiterrasen kann.

Lass mal wieder los!

Wenn sich das nächste Mal also bei dir wieder der Kopf dreht von all den Dingen, die du glaubst, jetzt gleich noch erledigen zu MÜSSEN und du dich trotz echter Erschöpfung noch getrieben fühlst, hier noch einmal die Erinnerung daran, dass Produktivität und messbarer Output echt nicht alles sind. Und ein paar kleine Hacks, so einfach sie auch sein mögen, um dich daran zu erinnern, dass es nicht nur okay, sondern auch notwendig ist, sich zwischendurch mal abzumelden. Meine gute Freundin Anne Cohrs hat als Beraterin und Trainerin eigene Happy Work Hacks etabliert. Und geht neue Tasks gerne mit der Frage an:

Hab ich da Kapazitäten für?

Um mal im Produktivitätsbild zu bleiben: Jedes Unternehmen muss, um Nachfrage erfolgreich zu bedienen, seine Produktionskapazitäten im Blick behalten. Betrachte dich in den Anforderungen, vor denen du stehst, als eben so ein Unternehmen. Wenn deine Kapazitäten ausgelastet sind, arbeite erst einmal ab und lade dir nicht noch eine Präsentation oder einen Sprachkurs (Stichwort Selbstoptimierungsdruck im Lockdown!) oben drauf. Schau dir an: Welche Aufgaben solltest du priorisieren? Was kannst du delegieren? Und welche konkreten Deadlines hast du eigentlich?

Professional detachment

Diese Skill bedarf ein wenig Übung. Es geht um bewusst geschaffene, emotionale Distanz zu Job oder Business. Natürlich fühlt sich jede*r von uns dem eigenen Unternehmen oder der eigenen Idee verpflichtet – und das ist ja auch gut so! Und wenn du gerade voll im Thema und begeistert bei der Sache bist: Lass dich bitte nicht bremsen! Aber trotzdem gibt es natürlich noch den Teil von uns, der nicht bis 22:00 Uhr in Calls hängen will oder intrinsisch motiviert unbezahlte Überstunden abarbeitet. Macht uns das weniger purpose-driven? Nein. Es macht uns noch nicht einmal weniger produktiv. Professional detachment hilft dir sogar dabei, deine Aufgaben effizienter und rationaler anzugehen. Du kannst sie objektiver betrachten, ohne impulsiv zu reagieren oder sie als persönliche Angelegenheit zu betrachten.

Take a nap!

Forscher*innen warnen schon seit Jahren vor einer übermüdeten Gesellschaft. Leider gilt immer noch das zweifelhafte Leistungsimage, dass möglichst wenig Schlaf eine Grundzutat vor allem beruflichen Erfolgs ist. Es würde die Länge dieses Beitrags sprengen, hier über alle erwiesenen, positiven Effekte von ausreichend Schlaf für die eigene Leistungsfähigkeit und Kreativität zu schreiben. Nur so viel: Schlaf macht dich tatsächlich besser! In quasi allem! Ich bin auf alle Fälle Team Nickerchen.

Take a break!

Jede*r von uns braucht neben Schlafpausen natürlich auch die echten Pausen. Bye-bye office, hello world out there! Schaffe Raum, um „dich abzumelden“. Jede*r braucht mal Urlaub! Oder zumindest ein paar Minuten am Tag, um einfach mal runterzukommen. Schon ein kleiner Spaziergang ist ein echter Booster für die Kreativität. Die Universität Stanford konnte in 2020 in einer Studie eine Steigerung um 60 Prozent messen. Schon eine halbe Stunde reicht aus, um Symptome psychischer Krankheiten und Stresshormone zu reduzieren. Also, Kaffee auf die Hand und ab durch den Frühling spazieren!

Und falls du in in einer Führungsrolle bist: Practice loud leaving!

Trotz grundlegender Daten, die zeigen, dass lange Arbeitszeiten weder die Produktivität noch die Kreativität verbessern, halten sich die Mythen zu Überarbeitung für den Erfolg hartnäckig. Die Grenzen für eine gesunde Work-Life-Balance, die du im Office ziehst, zahlen positiv auf die mentale Gesundheit deiner Teams ein. Wenn anderes neben der Arbeit als persönlich wichtig empfunden wird und dafür auch bewusst Zeit definiert wird, ist das kein Mangel an Leidenschaft für den Job, sondern schlicht gesagt: ganz normal und gesund.

Last but not least: Take away the extra pressure! 

Wir alle sind in unserem Alltag mit externen Erwartungen konfrontiert, im privaten und beruflichen Feld müssen wir viele spezialisierte Funktionen für einen erwarteten “Output” erfüllen. Also sollten wir den Druck auf uns selbst also nicht noch künstlich erhöhen. Wenn sich dein Kopf das nächste Mal dreht vor lauter da-müsste-ich-eigentlich-nochmal-ran, klinke einmal kurz die Pausetaste rein und schau dir an, ob du die Kapazitäten, die Ruhe und die Energie dafür hast, dir eine bestimmte Task jetzt noch einmal vorzunehmen. Lass dir nicht von einem falschen Produktivitätsverständnis suggerieren, dass du nur bist, was du tatsächlich sichtbar leistest. Und denke ab und zu daran, dass eine stabile Leistungsperformance einen ausgeruhten und durchgelüfteten Kopf braucht. Ein bisschen recreation und Auszeit kannst du deinem monkey mind auch übrigens immer schon durch eine Runde simples Atmen liefern. Geht am besten im Sitzen mit gerader Rückenlehne. Timer auf 10 Minuten stellen, Hände bequem auf den Oberschenkeln ablegen, Augen schließen, in Gedanken einmal von 30 rückwärts Zählen. Und dann einfach atmen. Bevor der hustle weitergeht!